Sozialer Jetlag
Sozialer Jetlag (SJL) ist ein Maß für die Diskrepanz zwischen der inneren Uhr des Körpers und der sozialen Zeit [WDMR06]. Darunter leidet jeder, der zum Aufstehen einen Wecker benötigt [Diem00]. Die sozialen Vorgaben, wann Schlaf zu erfolgen hat, entsprechen in diesem Fall nicht den Schlafzeiten, die der Körper auf Basis des eigenen Müdigkeitsgefühls, also der inneren Uhr, wählen würde.
Abbildung 1 zeigt beispielhaft ein Schlaftagebuch einer Person mit starkem sozialem Jetlag. Die Schlafzeit dieser Person an Werktagen (dunkelgrau) unterscheidet sich erheblich von der an Wochenenden (hellgrau). An Werktagen wird der Schlaf an beiden Enden verkürzt: Die innere Uhr der Person erlaubt es ihr nicht zur rechten Zeit einzuschlafen [RPZW19]. Am Morgen wird der Schlaf dann gewaltsam durch den Wecker vorzeitig abgebrochen [RPZW19]. Die Folge: chronischer Schlafmangel, der nur zum Teil am Wochenende aufgeholt werden kann [FPWW13, RoWK19].
An dieser Stelle sei angemerkt, dass das Ausschlafen am Wochenende keine Verstärkung des Problems, sondern eine Linderung darstellt, also gesund ist. Menschen mit zu wenig Schlaf während der Woche haben eine höhere Sterberate, wenn sie am Wochenende keinen Kompensationsschlaf bekommen, als ihre Leidensgenossen, die am Wochenende den Schlaf zumindest teilweise nachholen können [ÅGGZ19].
Abbildung 1: Schlaftagebuch einer Person mit starkem sozialem Jetlag. Quelle: [RPZW19], bearbeitet.
Der soziale Jetlag berechnet sich aus der Differenz zwischen der durchschnittlichen Schlafmitte (Mittelpunkt zwischen Einschlafen und Aufwachen) an freien Tagen (in Abb. 1 grün) und an Arbeitstagen (in Abb. 1 rot) [RPZW19, WDMR06].
Abbildung 2 zeigt eine Statistik über den sozialen Jetlag der Bevölkerung. Nur ca. 20% der Bevölkerung leiden an weniger als einer halben Stunde sozialem Jetlag und bekommen an Arbeitstagen mehr als 7 Stunden Schlaf [RoWK19].
Sozialer Jetlag ist vergleichbar mit Reisejetlag, den man erfährt, wenn man große Entfernungen Richtung Osten oder Westen reist. Der Unterschied ist, dass der Körper sich bei Reisejetlag nach Ankunft am Zielort an die neuen Lichtverhältnisse (Sonnenstand) anpasst, während sozialer Jetlag chronisch ist. [RPZW19]
Sozialer Jetlag ist mit gesundheitlichen Risiken verbunden (siehe Gesundheitliche Folgen sozialen Jetlags) [Roen19].
Abbildung 2: Sozialer Jetlag der Bevölkerung. Quelle: [RPZW19], bearbeitet.
Ursachen sozialen Jetlags
Die Ursache von sozialem Jetlag ist eine Kombination aus unangepassten sozialen Zeiten und durch Lichtverschmutzung verstellte innere Uhren.
Die innere Uhr des Körpers wird fast ausschließlich durch Licht gestellt und nicht durch soziale Zeiten, auch in den Industrienationen. Die Sonnenzeit (Zeitpunkt von Sonnenauf- und -untergang) ist dementsprechend der stärkste Einflussfaktor auf die innere Uhr. [RoKM07]
Leider richten sich soziale Zeiten nur begrenzt nach der Sonnenzeit. Zudem gibt es individuelle Unterschiede darin, wie sich die innere Uhr des Einzelnen bei bestimmten Lichtverhältnissen einstellt (siehe Chronotypen).
Ursache 1: Konzept von Zeitzonen
Durch die Festlegung von Zeitzonen wird die soziale Zeit teilweise von der Sonnenzeit entkoppelt. Innerhalb einer Zeitzone müssen alle Menschen zur gleichen Uhrzeit aufstehen. Jedoch geht die Sonne an der Westgrenze der Zeitzone später auf und unter als an der Ostgrenze. Bei Einhaltung der Standardzeitzonen, wie sie 1884 beschlossen wurden, beträgt dieser zeitliche Unterschied eine Stunde. Das bedeutet, dass die Menschen im Westen der Zeitzone eine Stunde früher aufstehen müssen als ihre Mitbürger im Osten. Daher erhöht sich auch der soziale Jetlag innerhalb einer Zeitzone von Ost nach West [Roen19].
Ursache 2: Wahl geografisch falscher Zeitzonen, Sommer-Uhrzeit
Das Problem der Entkopplung der sozialen Zeit von der Sonnenzeit wird durch die Wahl geographisch unkorrekter Zeitzonen verstärkt. Häufig werden Ländern Zeitzonen zugeordnet, die wesentlich weiter im Osten liegen als das Land. Ein Beispiel dafür sind Frankreich, Spanien und die Beneluxländer. Sie liegen in Westeuropa, wurden jedoch im zweiten Weltkrieg der Zentraleuropäische Zeitzone zugeordnet. Im westlichen Spanien finden daher Sonnenauf- und -untergang ganze zwei Stunden später statt als an der Ostgrenze der Zeitzone (ca. Warschau). Dies erhöht den sozialen Jetlag enorm. Eine instinktive Reaktion vieler betroffenen Kulturen ist eine Verschiebung der Tagesabläufe. Nicht umsonst sind Spanier dafür bekannt, sehr „spät“ erst Abendbrot zu essen.
Die Sommer-Uhrzeit entspricht der Wahl einer Zeitzone, die zu weit im Osten liegt. Länder in Zentraleuropa (z.B.: Deutschland) leben während der Sommer-Uhrzeit nach osteuropäischer Zeit. Die soziale Zeit ist der Sonnenzeit dann noch weiter voraus. Die soziale Zeit ist folglich zu früh für unsere innere Uhr.
Ursache 3: Individuelle Unterschiede
So wie bei jeder Körpereigenschaft gibt es auch genetischbedingte Unterschiede darin, wie sich die innere Uhr des Einzelnen bei bestimmten Lichtverhältnissen einstellt. Frühe Chronotypen (Lerchen) werden früh müde und wachen früh auf, späte Chronotypen (Eulen) können erst spät einschlafen und wachen demensprechend später auf. Unsere sozialen Zeiten sind jedoch fast ausschließlich für sehr frühe Chronotypen gemacht (Nachtruhe 22:00 – 6:00 Uhr, gewöhnlicher Arbeits- bzw. Schulbeginn 8 Uhr oder gar eher). Mittlere und insbesondere späte Chronotypen leiden daher unter chronischem sozialen Jetlag [WDMR06].
Ursache 4: Lichtverschmutzung
Der Hell-Dunkel-Wechsel ist der Hauptzeitgeber für unsere innere Uhr. Durch weniger Aufenthalt im Freien, oftmals bereits bedingt durch den Beruf, und künstliches Licht, wird der natürliche Zeitgeber unserer inneren Uhr geschwächt [Roen19]. Daher sind die inneren Uhren der meisten Menschen heute später dran als unter natürlichen Lichtverhältnissen [SCMM17]. Es gibt also mehr späte Chronotypen (Eulen) und daher auch mehr Menschen, die unter sozialem Jetlag leiden. Nur extreme Lerchen werden unter diesem geschwächten Zeitgeber noch früher. [Roen19]
Zudem benötigt der Körper insbesondere Licht am Morgen, um die innere Uhr früher zu stellen [RoDM03]. Viele Menschen müssen jedoch für einen großen Teil des Jahres bereits vor Tagesanbruch auf Arbeit oder in der Schule sein und haben daher keine Möglichkeit, sich dieses Licht zu holen.
Der geschwächte Hell-Dunkel-Wechsel lässt sich in unserer modernen Gesellschaft nur sehr begrenzt vermeiden. Selbstverständlich kann man versuchen, die Zeit im Freien (insbesondere am Morgen) zu erhöhen und sparsam mit dem Gebrauch von künstlichem Licht am Abend umzugehen (siehe Lichthygiene). Aber möchten wir deshalb auf all die Berufe verzichten, die in Gebäuden ausgeführt werden müssen? Möchten wir Menschen dazu auffordern in den Wintermonaten im Kerzenlicht zu Abend zu essen? Sollten wir einen maßvollen Fernsehkonsum am Abend gänzlich verbieten? Vermutlich nicht. Dann ist eine logische Konsequenz die Anpassung der sozialen Zeiten an die körperlichen Bedürfnisse der Menschen in unserer modernen Gesellschaft.
Gesundheitliche Folgen sozialen Jetlags
Eine Vielzahl an Studien zeigt die negativen Auswirkungen von sozialem Jetlag auf die physische und psychische Gesundheit. Da späte Chronotypen verstärkt unter sozialem Jetlag leiden, sind diese am meisten davon betroffen [Part15, WDMR06].
Sozialer Jetlag
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erhöht das Risiko für
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hat einen negativen Einfluss auf das Immunsystem und führt zu:
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einer Schwächung der Immunreaktion und damit zu einer höheren Anfälligkeit für Infektionen und Krankheiten [BCSN17, HABC20, PaPD18, PhSK15].
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Einem vermehrten Auftreten von Allergien, Asthma, atopischen Ekzemen, rheumatoider Arthritis und entzündlicher Darmkrankheit [BCSN17, CKSD18, HABC20, PaPD18, PhSK15].
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erhöht die Insulinanforderungen von jugendlichen Diabetes-Typ-I-Patienten [SBBK18].
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erhöht den Konsum von Zigaretten, Koffein und Alkohol [WDMR06, WiPR10].
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erhöht die Neigung zu ungesunden Essgewohnheiten [APWV18].
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beeinträchtigt die kognitive und akademische Leistungsfähigkeit [DíEs15, HEGR14].
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erhöht das körperliche und verbale Aggressionspotenzial in jungen Erwachsenen [RaVo13].
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senkt die Lebenserwartung [Bori11a].